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Esther Weidauer

Warum ich Angst habe

2014-02-14

Muster aus roten Plastikzweigen

There’s also an English version of this article: “Why I am scared”.

Triggerwarnung: Dieser Text behandelt persönliche Erfahrungen mit psychischen Problemen, Gewalt, Mobbing, Misshandlung und Vergewaltigung.

Seit einer ganzen Weile trage ich die Idee mit mir herum, diesen Artikel zu schreiben, habe mich jedoch nie entschließen können, es auch tatsächlich zu tun. Vermutlich brauchte ich erst einmal eine längere Phase der Ruhe, um die Dinge, von denen ich hier erzählen möchte, einzuordnen und darüber zu reflektieren.

Ich habe mich bemüht, in diesem Artikel Formen wie Lehrer_Innen und Schüler_Innen zu verwenden, wenn ich sowohl männliche als auch weibliche Personen meine. An den Stellen and denen lediglich das Maskulinum oder Femininum verwendet wird, sind tatsächlich nur männliche bzw. weibliche Personen gemeint und nicht alle.


Ich habe Angst. Inzwischen nicht mehr so oft aber das war lange Zeit anders. Früher hatte ich eigentlich ständig Angst. Angst davor, unter Menschen zu sein, manchmal sogar dann, wenn es sich dabei um gute Freunde handelte. Angst davor, zur Arbeit zu gehen, Bahn oder Bus zu fahren. Angst davor, die eigene Wohnung zu verlassen. Angst davor, Menschen, die mir nahestehen, zu verletzen oder sie zu verlieren. Angst davor, was die Angst mit mir anstellt.

Bei mir wurde vor ca. 2 Jahren eine Generalisierte Angststörung diagnostiziert, die ich allerdings schon etliche Jahre mit mir herumtrug. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich endlich in Psychotherapie begeben, nachdem ich kaum noch mit meinem Alltag zurecht kam. In der Therapie war es mir dann zum ersten Mal in meinem Leben möglich, über die Dinge zu reden, die mir in meiner Kindheit und Jugend widerfahren waren und in denen die Ursachen für meine Krankheit liegen.

Mittlerweile ist es mir zwar nicht mehr gänzlich unmöglich über all das zu reden, aber es fällt immer noch sehr schwer. Alles aufzuschreiben ist dagegen deutlich leichter, daher dieser Artikel. Außerdem möchte ich nicht länger ein Geheimnis aus meinen Problemen machen. Wenn Leute merken, dass es mir manchmal schlecht geht, möchte ich mir nicht länger irgendwelche Ausreden ausdenken müssen.

Soweit ich mich erinnern kann, fing alles in der zweiten Klasse an, also 1992/93. Ich war damals schon ein schüchternes und relativ zurückhaltendes Kind und nicht besonders kontaktfreudig. Das erste Schuljahr verlief noch ereignislos, aber während des darauf folgenden Jahres hattet ein paar meiner Mitschüler wohl begriffen, dass ich nicht gerade ein selbstbewusstes Kind war und ich wurde relativ schnell zum allgemeinen Mobbing-Ziel. Bald kamen körperliche Angriffe dazu. Ich wurde umhergestoßen und -gezerrt und unter Androhung von Gewalt über den Schulhof gejagt. Die Schüler, die sich daran beteiligten wurden mehr. Irgendwann schlug mir ein Schüler aus einer anderen Klasse ohne Grund auf dem Schulkorridor in den Bauch. Konsequenzen hatten diese Angriffe keine. Meine Versuche, Lehrer_Innen zu informieren führten bestenfalls zu einer Aufforderung, man solle mich doch in Ruhe lassen, die natürlich keinen Effekt hatte. Es ermutigte die anderen nur, weiter zu machen.

Von da an war in der ganzen Schule bekannt, dass ich hervorragend als Opfer taugte und es ging immer schlimmer weiter. Ich konnte mich meinen Angreifern auch nie wirklich entziehen. Ein Junge aus meiner Klasse, der nahezu immer der “Anführer” war, wenn es um Attacken auf mich ging, war auch mit den wenigen Anderen befreundet, die ich damals für meine Freunde hielt. Heute ist mir klar, dass es niemals echte Freunde waren, was mir aber erst sehr viel später und mit ausreichend Abstand klar geworden ist.

Der selbe Typ, der über Jahre hinweg den Rest der Schule gegen mich anführte, war also auch aus meinem “Freundeskreis” nicht heraus zu bekommen. Es gab auch immer wieder Phasen, in denen ich durch den großen sozialen Druck sogar soweit manipuliert wurde, dass ich ihn und einige andere, die fast immer mit dabei waren, wenn es gegen mich ging, auch als Teil meines Freundeskreises zu sehen. Die Angst, gar keine Freunde mehr zu haben und vollkommen allein zu sein war einfach zu groß. Also verbrachte ich auch immer wieder Zeit mit diesen Typen, die das natürlich durchschaut hatten und fleißig ausnutzten, um mich nicht nur in sondern auch außerhalb der Schule weiter quälen zu können.

Irgendwann wurde es zur Belustigung aller, was alles mit mir angestellt wurde. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem gut die Hälfte meiner Jahrgangsstufe eine Treibjagd durch’s Schulhaus veranstalteten. Von den Aufsicht führenden Lehrer_Innen störte sich natürlich niemand an einem schreienden Kind, dass von einer Meute verfolgt wurde. Ein anderes Mal wurde ich während der großen Pause auf dem Schulhof an eine Fahnenstange gefesselt und erst zu Ende der Pause erklärte sich einer meiner “Freunde” bereit, mich loszubinden, nachdem alle Kinder der Schule sich ausführlich amüsiert hatten und auch hier kein(e) Lehrer_In eingeschritten war.

Es war die Regel, dass die Lehrer_Innen entweder gar nichts unternahmen, solange es nicht zu laut wurde. Schläge in den Bauch sind nicht laut. Davon bekam ich viele. In den seltenen Momenten, in denen ich mich wehrte, meist in Form eines unkontrollierten Wutanfalls nachdem ich zuvor stundenlang provoziert wurde, war ich laut. Dann war natürlich sofort jemand zur Stelle um mich aufzufordern, “nicht so hysterisch zu sein”.

Obwohl sich über den Verlauf meiner Schulzeit mehrmals die Klassenzusammenstellung änderte, wurde ich besagten Mitschüler auch nie los. Er kam auf das gleiche Gymnasium, in die gleiche Klasse. Als dann die Wahl der zweiten Fremdsprache anstand und die Klassen wieder neu zusammengestellt wurden, war er auch wieder da. Das gleiche noch einmal als später zwischen sprachlichem und naturwissenschaftlichem Profil gewählt wurde. Ich wurde ihn einfach nicht los.

Das führte dann auch zu dem Erlebnis, das mein Leben seit dem weitgehend bestimmen würde. Es war wieder eine dieser Phasen, in denen ich wieder dazu manipuliert wurde, auch meine Freizeit mit besagtem Mitschüler zu verbringen. Das ganze Prozedere hatte sich nun schon über mehrere Jahre immer wiederholt und ich dachte damals gar nicht mehr daran, dass es jemals anders sein könnte. Mittlerweile war es für mich er Normalfall im Sportunterricht und in den Pausen von den selben Leuten Schläge zu bekommen, mit denen ich auch den anschließenden Nachmittag verbringen würde. Ich stellte das alles gar nicht mehr in Frage. Das folgende zeitliche genau einzuordnen, fällt mir schwer, da ich es über viele Jahre verdrängt hatte und mir erst sehr viel später selbst eingestehen konnte, was passiert war. Es muss aber in der 6. oder 7. Klasse gewesen sein, im Sommer. Ich war also 12 oder 13 Jahre alt.

Eine der häufigsten Freizeitbeschäftigungen damals war das Radfahren. In einer kleinen Stadt ist ja auch nichts los, also wurden die Felder und Wälder der Umgebung per Fahrrad erkundet. Wir waren zu zweit unterwegs, auf einem Wanderweg außerhalb der Stadt und waren gerade auf einen Felsen gestiegen, der auf einer Seite einen Steilen Abhang hatte. Ich stand in der Nähe des Abhangs als besagter Mitschüler mich am Nacken packte, nach unten drückte und mich unter der Androhung, mich hinunter zu stürzen, vergewaltigte. Ich war gelähmt vor Angst und konnte mich nicht wehren. Ich wäre sowieso körperlich unterlegen gewesen. Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, aber es kam mir ewig vor. Er wollte diverse Dinge “ausprobieren” und tat das auch. Zuletzt verlangte er natürlich noch, dass ich niemandem davon erzählen solle. Auch das wieder unter Androhung von Gewalt.

Und ich erzählte es damals niemandem. Ich verdrängte das erlebte sehr schnell und alles ging so weiter wie zuvor. Ich kassierte weiter Schläge, meine Arbeiten für die Schule (Hausaufgaben, Arbeiten im Kunstunterricht) wurden zerstört oder gestohlen. Auf dem Heimweg lauerten mit Schüler anderer Schulen auf, die davon erfahren hatten, was für ein leichtes Ziel ich war. Alles, wie ich es inzwischen gewohnt war.

Auch die Tatenlosigkeit der Lehrer_Innen bleib unverändert. Sie gipfelte darin, dass später, in der neunten Klasse, als ein paar neue Schüler dazu gekommen waren und ebenfalls gemobbt wurden, unsere Klassenlehrerin sich weigerte, sich die Vorwürfe mehrerer Schüler_Innen gegen zwei der Täter überhaupt anzuhören, solange diese nicht dabei wären. “Das sei sonst ja nicht fair”, meinte sie. Damit war jegliche Hoffnung auf Hilfe durch das Schulpersonal auch dahin. Meine schulischen Leistungen litten auch erheblich. Ich kann es noch heute gut an meinen Zeugnissen erkennen, dass seit der zweiten Klasse meine Noten kontinuierlich schlechter wurden.

Es dauerte bis zum Anfang der zehnten Klasse, bis das alles ein Ende fand. Ich bin mir nicht sicher, warum, aber es hörte ziemlich abrupt auf. Plötzlich schien sich niemand mehr dafür zu interessieren, mich zu terrorisieren. Jedenfalls hatte ich zunehmend Ruhe. Ich schloss sogar neue (und diesmal richtige) Freundschaften dank eines Mitschülers, der die zehnte Klasse wiederholen musste und somit ebenso wie ich ein Außenseiter in meiner Klasse war. Ich lernte ein paar seiner Freunde kennen und es entwickelten sich langjährige Freundschaften. Meine Schulnoten waren zwar immer noch schlecht, so schlecht sogar, dass ich die 11. Klasse wiederholen musste, aber das Private war wohl vorerst wichtiger. Bei meinem zweiten Versuch der 11. Klasse besserten sich dann auch meine Noten. Mit komplett neuen Mitschüler_Innen zusammen zu sitzen, war sicherlich hilfreich.

Aber eines blieb mir trotzdem: Die ständige Angst. Es hatte sich so in mein Weltbild eingebrannt, dass die meisten Menschen mir schaden wollen, dass ich dieses Gefühl nicht mehr los wurde. Die lange Verdrängung meiner Vergewaltigung tat ihr Übriges, um mich immer weiter zu verunsichern, da mir nie wirklich bewusst wurde, warum ich anderen Menschen immer zunächst misstraute und es mir nahezu unmöglich war, Vertrauen aufzubauen.

Über die Jahre verfestigte sich meine Angst immer weiter. Ich bekam während des Studiums die ersten Zusammenbrüche in zwischenmenschlichen Stresssituationen und die ersten depressionsähnlichen Zustände. Ob der Abbruch meines Studiums (Chemie) eine Folge davon war, kann ich nicht genau sagen. Auf jeden Fall fiel ich danach in eine lange depressive Phase. Ich hatte seit Jahren von diesem Studium geträumt und war nun daran gescheitert. Es folgte knapp ein Jahr in dem ich zu nichts in der Lage war. Ich lebte einfach nur vor mich hin, war unfähig, mich um Ausbildung oder Arbeit zu kümmern und glitt zudem immer weiter in die Armut, da ich mich auch um meine Sozialleistungen nicht ausreichend kümmern konnte. Mir war damals nicht klar, warum ich mich nicht aufraffen konnte, etwas an diesem Zustand zu ändern. Heute weiß ich, dass es die lähmende Wirkung meiner Angststörung war, ähnlich einer Depression.

Durch viel Glück kam ich doch noch zu einem Ausbildungsplatz und zog aus Freiberg, wo ich studiert hatte und gescheitert war, nach Chemnitz. Dort genoss ich drei Jahre relativer Entspannung, die ich so noch nicht kannte. Die Ausbildung war einfach und niemand kannte mich. Es war ein Neuanfang für mich. Leider gab es in meiner Berufsschulklasse einen Mit-Azubi, der immer auf Konfrontation aus war. Da holte mich meine Unfähigkeit zur Konfliktbewältigung wieder ein. Zum Glück hatte ich ein kleines soziales Auffangnetz und zum ersten Mal auch Lehrer_Innen, die mir helfen wollten und konnten. Der komplette Rückfall in die Angstzustände blieb mir erspart.

Dann kam Berlin. Nach meiner (diesmal erfolgreichen) Ausbildung zog ich nach hier hin und hatte meinen ersten “richtigen Job”, so richtig mit Überstunden, manipulativen Vorgesetzten und letztendlich dem ersten Zusammenbruch seit Jahren. Da waren sie wieder: die Angst, die Lähmung, die Selbstzweifel. Meine Hausärztin, die mich zunächst krank geschrieben hatte, überwies mich gleich zu einer Psychologin. Bereits die Vorgespräche zeigten jedoch, dass ich nicht mit ihr klar kam. Ich brach den ersten Therapieversuch ab. Natürlich schob ich die Schuld dafür auf mich und bekam Angst, es würde auch bei einem zweiten Versuch so sein. Ich zweifelte daran, dass mir überhaupt zu helfen sei. Es folgten Monate mit immer wiederkehrenden Panikattacken und Phasen, in denen ich tagelang nicht fähig war, die Wohnung zu verlassen.

Dann der zweite Versuch. Ich hatte Glück und fand recht schnell einen neuen Therapeuten, der mir nach den Vorgesprächen auch deutlich angenehmer war. Ich begann eine Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit wöchentlichen Sitzungen. Zudem hatte ich Gelegenheit, die Firma zu wechseln und kam so zu einem sehr viel angenehmeren Arbeitsplatz, was mir auch sehr half. Während der Therapie konnte ich die ganzen verdrängten Erinnerungen wieder ausgraben und mich ihnen auch stellen. Nach ca. 7 Monaten beendete ich die Behandlung im Einvernehmen mit meinem Therapeuten. Ich hatte einen Punkt erreicht, an dem ich wieder mit meinem Alltag umgehen konnte und wieder Kontrolle über mein Leben hatte. Das Erlebte werde ich zwar vermutlich nie los, aber ich habe gelernt, damit umzugehen und es mein Leben nicht mehr bestimmen zu lassen. Wenn ich aber auf die Frage “Wie geht es dir?” mit “Gut” antworte, hängt in meinem Kopf immer der stumme Nebensatz ”, abgesehen davon, dass ich fast jeden Tag an meine Vergewaltigung denken muss.” dahinter.

Die Angst ist immer noch da, sie ist nur nicht mehr der Mittelpunkt meines Lebens. Von Zeit zu Zeit habe ich jedoch immer noch Angstzustände. Enge, volle Räume, auf die ich mental nicht vorbereitet bin verursachen bei mir oft ein klaustrophobisches Gefühl, unerwarteter Kontakt mit Menschen überfordert mich oft und ein klingelndes Telefon versetzt mich meistens in Starre, egal wer anruft.

Generell ist alles Fremdbestimmte potentiell problematisch. Unangekündigte Besuche, unerwartete Menschengedränge, Telefonanrufe und plötzliche Planänderungen sind alles Dinge, die für mich ein Gefühl von Kontrollverlust und dadurch wiederum Angst verursachen. Mittlerweile gelingt es mir manchmal, diese Gefühle abzuschütteln, oft aber auch nicht. Ich versuche meistens, solche Risikosituationen zu vermeiden oder mich innerlich gut darauf vorzubereiten, um nicht zu sehr eingeschränkt zu sein, was das soziale Leben angeht.

Ob ich irgendwann noch einmal in Therapie gehe, um weiter an meinen Problemen zu arbeiten, wird sich noch zeigen. Ich glaube, ich habe das schlimmste hinter mir und kann mir vorerst selbst helfen. Ich glaube, das wichtigste Ergebnis der Therapie war, mir über meine Erfahrungen wirklich bewusst zu werden und sie als Ursachen meiner Ängste zu identifizieren. Ich hätte den Schritt zur Therapie viel früher machen sollen, aber das ist mir natürlich erst hinterher klar.

Ich kann nur allen raten, die sich fragen, ob sie eine Therapie brauchen: Wenn ihr euch das fragt, dann wahrscheinlich ja. Und besser früher als später. Es hilft.