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Esther Weidauer

"Ignorier' es doch einfach"

2014-06-26

Wie sicher alle mitbekommen haben ist gerade wieder Männerfußball-Weltmeisterschaft, was bei mir wie immer auf sehr wenig (gar keine) Begeisterung stößt. Da es nahezu unmöglich ist, sich diesem Theater irgendwie zu entziehen, empfinde ich es schlicht als übergriffig.

Trotzdem gebe ich mir Mühe, meine Anspannung und Gereiztheit für mich zu behalten, was nicht immer gelingt. Von den Fans bekomme ich dann regelmäßig zu hören, ich solle “das doch einfach ignorieren” und “mich nicht so anstellen”. Leicht gesagt, besonders von Menschen, die keine Probleme mit diesen Veranstaltungen haben.

Für mich sieht das leider anders aus. Aufgrund meiner psychischen Verfassung stellen laute, aufdringliche Menschen, insbesondere in Gruppen, für mich ein ernsthaftes Problem dar. Zwar kann ich meistens irgendwie genug Distanz waren, um durch den Alltag zu kommen, aber an manchen Tagen funktioniert das nicht. Heute war so ein Tag.

Eigentlich war ich gut vorbereitet und hatte mir für meinen Heimweg nach Feierabend und die Besorgungen, die ich noch machen musste, genau das Zeitfenster eingeplant, in dem die meisten zuhause oder in einer Bar das heutige Spiel verfolgen würden. Mein Plan wurde durch eine liegen gebliebene S-Bahn gestört und ich schaffte es nicht rechtzeitig nach Hause. Allein dadurch war ich schon angespannt.

Kurz bevor ich ankam, lief ich an einem offenen Fenster vorbei. Am Fenster stand ein Mann mit einer Pistole in der Hand und sah mich direkt und mit sehr ernstem Blick an. Daraufhin schoss er eine Leuchtkugel nach oben, dann noch eine weitere. Er hatte zwar nicht in meine Richtung gezielt sondern die Waffe eher schräg nach oben gerichtet und ich hatte auch begriffen, dass er “nur” Feuerwerk machte, trotzdem machte sich diese unbestimmte Angst und das Gefühl von Bedrohung wieder in meinem Kopf breit. Die Gruppe Jugendlicher, die kurz danach noch zwei Böller in meiner Nähe zündeten, machten das auch nicht gerade besser. Höchstwahrscheilch hegte niemand tatsächlich eine böse Absicht gegen mich. Das macht aber letztendlich keinen Unterschied.

Als ich es bis nach Hause geschafft hatte, folgte der erste “große” Angstanfall seit über zwei Jahren. Mittlerweile kann ich damit deutlich besser umgehen als damals und brauchte nur eine knappe Stunde, um mich wieder zu fangen statt wie früher einen ganzen Tag. Die extreme Erschöpfung danach und die Angst vor dem nächsten Anfall sind jedoch unverändert.

So sehen für mich diese Großereignisse aus: Ein konstantes Gefühl von Bedrohung mit der Gefahr solcher extremen Ausschläge wie heute. Betrunkene, aufdringliche und aggressive Fangruppen, aus Fenstern geworfenes Feuerwerk, Plastiktröten aus nächster Nähe – all das trägt zum Bedrohungsgefühl bei und den meisten Dingen kann ich nicht aus dem Weg gehen. Jeder Zeitungsstand, jedes aufgeschnappte Gespräch, jede Fahne erinnert mich zudem daran, dass wieder “diese Zeit” ist und dass ich besonders vorsichtig sein muss.

Natürlich gibt es die meisten dieser Faktoren auch zu anderen Anlässen. Diese sind dann aber, wie z.B. Silvester (inklusive dieses Typens mit der Leuchtpistole), Zeitlich sehr begrenzt und lassen sich ganz gut zuhause oder an anderen sicheren Orten aussitzen. Zu keinem anderen Anlass häuft sich das alles so, wie zur Männerfußball-WM/EM. Und alle zwei Jahre mehrere Wochen zuhause zu bleiben ist auch keine Option.

Höchstwahrscheinlich wird sich an der Übergriffigkeit, die während der Männerfußball-WM herrscht, auf absehbare Zeit rein gar nichts verbessern, so sehr ich mir das auch wünsche. Ich kann nur versuchen, mich noch besser vorzubereiten um Abende wie heute zu verhindern.

Aber ein wenig Verständnis dafür, dass diese Wochen für manche ein ernstes Problem sind und dass “einfach ignorieren” manchmal eben nicht so einfach ist, ist hoffentlich nicht zuviel verlangt.