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Esther Weidauer

Egal was, es war falsch

2018-09-23

Content-Warnung: Dysphorie, Trans-Feindlichkeit, selbstverletztendes Verhalten, Gewalt, Vergewaltigung

Vor über vier Jahren schrieb ich über die Gewalt und den Missbrauch, den ich in meiner Kindheit und Jugend erfahren habe, was das mir gemacht hat und wie ich damit umgehe. Seitdem ist einiges passiert und ich habe sehr wichtige Dinge über mich akzeptiert. Damals dachte ich, ich würde irgendwann ein Update dazu schreiben. Wie sich herausstellte, war dieser Artikel nur der Anfang von etwas viel größerem.

Inzwischen habe ich mich als transgender Frau geoutet und lebe als ich selbst. Dieser Artikel der erste Teil einer Reihe über meine Erfahrungen bis hin zu diesem Punkt.

Dies ist die deutsche übersetzung dieses englischen Original-Artikels.

Schwarz-weiß-Foto eines 4-jährigen Kindes mit lockigen Haaren

Vor kurzem habe ich meine alten Kinderfotos durchgesehen und dieses ist das späteste auf dem ich mich noch wieder erkenne. Alles danach zeigt bereits eine Person in einer Maske in der ich mich nicht sehe. Auf dem Foto bin ich etwa vier Jahre alt.

Ich erinnere mich wie ich mit acht oder neun Jahren oft im Bett lag, nicht schlafen konnte, und mir verzweifelt wünschte, am nächsten Morgen mit einem anderen Körper, einem anderen Namen und einem anderen Leben aufzuwachen. Ich wünschte mir, als das Mädchen zu leben, das ich wirklich war. Das war mir von da an für weitere 25 Jahre nicht möglich. Da ich bei der Geburt männlich zugewiesen worden war, wurde mir dieses Leben verwehrt. Stattdessen wurde ich gezwungen, die Fassade eines Jungen zu zeigen. Zu dieser Zeit hatte ich weder das Verständnis noch das nötige Vokabular um diese Gefühle zu begreifen oder auszudrücken. Ich vergrub sie tief und gab mir Mühe, den Erwartungen anderer an mich zu entsprechen. Gerade als Kind ist das extrem schwer und sehr oft scheiterte ich daran.

Ich war schon immer ein stilles, sensibles und schüchternes Mädchen, zufrieden damit, alleine zu spielen, zu lesen, und wenig mit anderen Kinder zu interagieren. Das war allerdings nicht, was Andere von mir erwarteten. Als Junge zugewiesen, erwarteten Kinder und Erwachsene von mir das Verhalten eines “richtigen Jungen”: Extrovertiertheit, körperliche Stärke, Selbstsicherheit, emotionale Härte — all das was eine sexistische, patriarchale Gesellschaft mit Männlichkeit verbindet.

Nicht in das “Jungs-Muster” zu passen hatte schwere Folgen und führte zu fast täglicher Gewalt gegen mich bis hin zu Vergewaltigung, wie beschrieben in meinem Artikel von 2014. Oft musste ich mich entscheiden zwischen dem was sich richtig anfühlte und dem was von mir erwartet wurde. Immer wenn ich versuchte mich anzupassen, fühlte es sich furchtbar an. Das sind die frühesten dysphorischen Erfahrungen, an die ich mich erinnern kann. Es war eine Art selbst-verletzendes Verhalten, das von meiner Umgebung ermutigt wurde. Immer wenn ich gegenüber anderen und mir selbst eine Lüge lebte und versuchte “jungenhaft” su sein, bekam ich Lob dafür während ich dafür bestraft wurde, wenn ich versuchte als ich selbst zu leben. Egal was ich tat, es war immer falsch und auf die eine oder andere weise schädlich.

Die Art mich selbst zu belügen um mich anzupassen setzte sich sehr stark fest, schließlich schien das zu funktionieren. Je besser ich darin wurde, diese Maske aufrecht zu erhalten, umso weniger Missbrauch und Gewalt erfuhr ich von den Menschen um mich herum. Im Alter von fünfzehn Jahren war ich ziemlich gut darin geworden. Ich hatte mich an das nagende Gefühl gewöhnt, dass ich letztendlich allen etwas vormachte, und für ein paar Jahre merkte ich auch nicht, wie erschöpfend das alles war. Mit zwanzig Jahren war ich erstmal froh, weg von der Schule und der Gewalt die ich dort erlebte zu sein. Ich war mit meinem Studium beschäftigt und für ein paar Jahre schien alles halbwegs in Ordnung zu sein.

Das hielt aber nicht lange an. Ziemlich bald holte mich die Erschöpfung und meine chronischen Angstzustände ein, die ich in meiner Schulzeit entwickelt hatte. Ich war 27 als ich meine ganzen traumatischen Erfahrungen in Therapiesitzungen aufarbeitete. Danach begann der langsame Prozess, wieder zu entdecken, was ich so lange verleugnet hatte. Es sollte mich noch ein paar weitere Jahre kosten, die Maske endgültig abzulegen. Aber letztendlich ist es mir gelungen.

Rückblickend bin ich extrem froh, all das überhaupt überlebt zu haben, schließlich scheitern viele auch daran. Aber ich betrauere auch die verlorenen Jahre in denen ich eine Lüge lebte und die Kindheit und Jugend die mir verwehrt blieb. Es fühlt ich an, als ob 25 Jahre meines Lebens einfach fehlen, die ich niemals wieder bekomme.