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Esther Weidauer

Dysphorie und Überleben

2019-05-09

Stylized image of an eye

Content notes: gender dysphoria, medical transition, suicidal thoughts, self-harm, sexual violence

Dies ist eine Übersetzung eines englischsprachigen Artikels vom 27.04.2019.

“Wie fühlt sich geschlechtliche Dysphorie an?” ist eine sehr schwierige Frage. Stell dir vor du müsstest Erfahrungen wie Hunger oder Schmerz einer künstlichen Intelligenz beschreiben die diese Wahrnehmungen nicht erlebt. Jedes Tier mit einem zentralen Nervensystem weiß wie sich Schmerzen anfühlen, das schließt Menschen mit ein. Wir müssen niemandem Schmerz erklären weil wir das alle schon seit frühester Kindheit erleben und kennen, mit sehr seltenen Ausnahmen.

Mir fiel es lange sehr schwer, dieses Gefühl und diese Wahrnehmung zu beschreiben, die ein so großer Teil meiner Erfahrungen als trans Frau waren. Lange fehlten mir die richtigen Worte oder passende Metaphern. Erst im vergangenen Jahr, als meine eigene Dysphorie immer stärker und irgendwann unerträglich wurde, fand ich Möglichkeiten das auszudrücken.

Ein paar Dinge vorweg: Ich schreibe hier aus meiner persönlichen Perspektive und spreche nicht für alle trans Frauen, geschweige denn für alle trans Personen. Ich schreibe über körperliche Dysphorie, den Leidensdruck gegenüber dem eigenen Körper. Daneben existiert auch was ich soziale Dysphorie nennen würde, die mehr mit der Wahrnehmung durch andere Menschen zu tun hat und z.B. oft durch misgendering und deadnaming ausgelöst wird. Verschiedene Formen von Dysphorie haben miteinander auch Wechselwirkungen und Überscheidungen. Nicht alle trans Menschen erleben Dysphorie, viele erleben sie sehr unterschiedlich, und an Dysphorie zu leiden ist keinesfalls Voraussetzung um “wirklich trans” zu sein. Eine Frau (oder jedes andere Geschlecht) zu sein ist nicht and eine bestimmte Anatomie oder Körperform gebunden und eine medizinische Transition sollte der Besserung des Lebens der betroffenen Person dienen, nicht nur dazu den Erwartungen anderer zu genügen.


In dem Artikel über meine Kindheit schrieb ich, dass ich mich ab einem gewissen Alter, ungefähr 5 Jahre, nicht mehr in Fotos wiedererkenne. Klar, ich erinnere mich daran so ausgesehen zu haben aber es fühlt sich an als hätte ich eine Art Maske getragen. Was ich damals auf Fotos oder im Spiegel sah fühlte sich falsch und fremd an aber ich hatte nicht die Worte dafür das zu beschreiben und dachte auch, es sei vielleicht einfach Teil des Heranwachsens. Es war der erste Aspekt körperlicher Dysphorie der mir bewusst wurde und mit einsetzten der Pubertät wurde es nur schlimmer. Nach ein paar Jahren hatten die Testosteron-bedingten Veränderungen im Gesicht und ein ungleichmäßiger aber dunkler Bartwuchs mein Gesicht für mich unkenntlich gemacht. Wer auch immer die Person im Spiegel war, ich war es keinesfalls mehr. Wenn du dich selbst nicht mehr erkennst wird es schwer sich dazu zu motivieren sich um sich selbst zu kümmern und das eigene Leben auf die Reihe zu bekommen. Schließlich weißt du nicht mal mehr für wen du das eigentlich tust.

Die ersten Schritte meiner medizinischen Transition hatten zum Glück eine großen Einfluss auf meine Selbstwahrnehmung. Schon vorher fühlte sich eine glatte Rasur immer so als könnte ich wenigsten einen Teil der Maske ablegen, jedoch immer nur für ein paar Stunden bis der Bartschatten wieder sichtbar wurde, der schwer zu verstecken war. Nach wenigen Monaten an Behandlungen zur Haarentfernung hielt das glatt-rasierte Gefühl schon einen ganzen Tag an. Als ich dann die Hormonbehandlung (HRT) begann dauerte es wieder nur wenige Monate bis ich die ersten kleinen Veränderungen im Gesicht bemerkte. Jede Woche kam etwas mehr von einer Person zum Vorschein, die ich tatsächlich als mich selbst erkennen konnte. Heute, über ein Jahr später, kann ich jeden Morgen in den Spiegel schauen und egal wie müde ich aussehen oder wie ungekämmt meine Haare sind und selbst nach drei Tagen ohne Rasur, ich sehe immer mich selbst.

Die andere große Ursache von Dysphorie für mich war deutlich schwieriger zu beheben. Seit Beginn der Pubertät fühlten sich die Körperteile zwischen meinen Beinen zunehmend fremd an. Ich würde sie nicht einmal “meine Genitalien” nennen denn sie fühlten sich nie wirklich als ein Teil von mir an, so wie es z.B. Hände oder Füße tun. Normalerweise denke ich nicht über meine Füße nach. Sie sind einfach nur da und solange ich mir nicht die Zehen an irgendetwas stoße denke ich nicht bewusst daran. Ich vermute das geht den meisten Menschen so. Wir sind uns der Körperteile nicht wirklich bewusst, die da sind wo sie hingehören. Gegenüber den Genitalien mit denen ich geboren wurde war das sehr anders. Sie drängten sich permanent als Fremdkörper in mein Bewusstsein, als ob sie da jemand angeklebt hätte. Sie fühlten sich nicht nur wie ein Fremdkörper an, sondern ein Fremdkörper der trotzdem aus menschlicher Haut und Fleisch bestand, nicht Teil meines Körpers sondern eines anderen. Das erzeugte das Gefühl ständig im Intimbereich von einer anderen Person angefasst zu werden. Wenn sich das beängstigend anfühlt: ja, ist es. Für mich als überlebende sexualisierter Gewalt war diese Wahrnehmung ständig retraumatisierend.

Die schlimmsten Momente genital-bezogener Dysphorie waren Erektionen. Wie alle Menschen mit Penis wissen: Die lassen sich nur sehr eingeschränkt kontrollieren. Körperliche Intimität war daher immer eine Balanceakt. Einerseits waren Nähe und Sexualität Dinge die ich wollte, andererseits verstärkten genau diese Dinge meine Dysphorie. Gleichzeitig war ich vor meinem Coming-Out nicht im Stande offen über dieses Problem zu sprechen. Meistens versuchte ich zu ignorieren wie schlecht ich mich beim Sex fühlte aber das funktionierte keineswegs zuverlässig. Daher lies ich Dinge oft einfach passieren, auch wenn es mir dabei nicht gut ging, um “normal zu erscheinen”. Ein Folge davon war auch, dass ich sehr lange brauchte um zu kernen “nein” zu sagen wenn es um sexuelle Handlungen ging, aus Angst jemand könnte merken was mit mir los war.

Viele Jahre bekam ich es irgendwie hin damit zu leben aber als ich nach meinem Coming-Out anfing als ich selbst zu leben wurde es erst einmal viel schlimmer. Während die Dysphorie in Bezug auf mein Gesicht dank Hormontherapie langsam verschwand, blieb im Genitalbereich alles unverändert und fiel dadurch umso stärker auf. Sexuelle Aktivität war sehr bald nicht mehr möglich und sogar einfache Dinge wie gehen oder sitzen wurden schwierig. Länger als ungefähr eine Stunde zu laufen führte oft zu Schwindelgefühl und Übelkeit. Duschen musste ich so schnell wie möglich erledigen und dabei die Wand anstarren um zu vermeiden meine befremdlichen Körperteile zu sehen. Dieser Zustand verursachte irgendwann so viel Leid, dass ich oft Suizidgedanken hatte und in allgemeine Hoffnungslosigkeit driftete. Es gab auch immer wieder Fälle von selbst-verletzendem Verhalten.

Ich hatte nur wenige Möglichkeiten mit dieser starken Dysphorie umzugehen. Was oft half war ein sehr heißes Vollbad. Die Hitze und das Gefühl von Schwerelosigkeit im Wasser dämpften alles genug um danach wenigstens einschlafen zu können. Trotzdem war Schlafmangel ein dauerndes Problem. Häufig wachte ich Nacht auf und konnte nicht mehr einschlafen. Ablenkungen wie Filme oder Spiele hörten auch irgendwann auf zu funktionieren.

Mir geht es aber inzwischen besser, viel besser sogar. Ich schreibe diesen Text während ich mich von meiner geschlechtsangleichenden Operation erhole. Meine Genital-Dysphorie existiert nicht mehr, sie ist einfach weg. Ich hatte erwartet, dass ich am Anfang einige Wochen oder Monate brauchen würde um mich daran zu gewöhnen jetzt eine Vagina, Klitoris und Labien zu haben, aber das war nicht der Fall. Nachdem die Schmerzen und die Erschöpfung nachließen war auf einmal alles richtig. Zum ersten Mal fühlt sich meine Körper als eine zusammengehörende Einheit an. Nichts ist mehr fremdartig oder am falschen Platz und ich kann mich ohne Probleme anschauen. Alles sieht richtig aus und fühlt sich richtig an.

Das bringt mich zu der Kehrseite von alldem: geschlechtliche Euphorie. Während Dysphorie das Leiden unter bestimmten Aspekten des Körpers bezeichnet, beschreibt Euphorie entsprechend das Gegenteil: eine positive, bestätigende Wahrnehmung und das Gefühl das Dinge so sind Wiese sein sollen. Das Ergebnis meiner Operation ist ganz klar das offensichtlichste und extremste Beispiel von heftiger Dysphorie die sich praktisch über Nacht in starke Euphorie gewandelt hat, aber es gab auch andere und eher unerwartete Fälle davon.

Eine sehr häufige Wirkung von östrogen-basierter HRT ist Brustwachstum. Ich hatte mich nie wegen meiner flachen Brust dysphorisch gefühlt und auch nie entsprechende Prothesen verwendet da diese als Fremdkörper wiederum dysphorische Gefühle auslösten. Nur einmal auf einer Reise benutzte ich einen ausgestopften BH weil vor Ort ein besseres passing zu erheblich mehr Sicherheit führte. Als aber meine Brüste anfingen zu wachsen führte das trotz der ungewöhnlich starker Wachstumsschmerzen zu sehr positiven Empfindungen und heute würde ich sie nicht mehr missen wollen. Etwas ähnliches passierte nach meiner Kehlkopf-Reduktions-OP. Ursprünglich hatte ich mich für diese OP entschieden weil die äußere Erscheinung eines deutlich hervorstehende “Adamsapfels” für mich verstörend war und auch weil es eins der häufigsten Merkmale ist an denen andere Menschen dich als trans erkennen. Beide Probleme wurden durch diesen kleinen Eingriff gelöst aber danach viel mir noch etwas anderes auf. Mein Hals fühlte sich einfach besser an, besonders wenn der Kehlkopf sich bewegt (z.B. beim Sprechen oder Schlucken). Es war ein Gefühl von Erleichterung das ich nicht erwartet hatte.


Eine häufige Frage von Menschen die keine Dysphorie erfahren ist, inwiefern diese sich davon unterscheidet bestimmte Körperteile einfach nicht zu mögen. Für viele Menschen stimmen manche Aspekte ihres Körpers nicht mit ihren eigenen Erwartungen oder denen der Gesellschaft überein. Mir geht es da nicht anders. Zum Beispiel empfinde ich meine Füße als häßlich und ich mag meine Nase nicht. Aber beide fühlen sich trotzdem als richtige Teile meines Körpers an und nicht fremdartig. Ich mag sie einfach nur nicht und das ist auch OK.

Ich wurde auch gefragt, was Menschen mit starker Dysphorie helfen könnte. Leider habe ich darauf keine gute Antwort. Meine eigene Dysphorie hing sehr daran wie sich mein Körper anfühlt und weniger daran wie er für andere aussieht. Deshalb waren z.B. Komplimente über meine Aussehen keine große Hilfe. Für Ablenkung zu sorgen war meistens einen Versuch wert, wenn auch nich immer erfolgreich. Manchmal war es auch einfach das Beste mir den Raum und seine Zeit zu geben um die schlimmen Phasen vorbei gehen zu lassen und auf mich aufzupassen. Ich verletzte mich manchmal selbst wenn ich alleine war. In Gesellschaft zu sein verhinderte das meistens.

Was mir letztendlich Besserung verschaffte war Zugang zur passenden medizinischen Behandlung zubekommen. Ich musste schwer dafür kämpfen und ich glaube ich hätte es nicht geschafft, ohne die riesige Unterstützung von den mir am nächsten stehenden Menschen und meines wirklich großartigen Therapeuten der ein wichtiger Verbündeter gegen war gegen die brutale Bürokratie die trans Personen bei medizinischer Transition entgegen steht.