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Esther Weidauer

Wie ich mich selbst fand

2018-12-07

Dies ist der zweite Teil einer Reihe von Artikeln über meine trans Erfahrungen. Der erste war Egal was, es war falsch, über meine Kindheit und Jugend.

Dieser Teil dreht sich um meinen Prozess der Selbst-Akzeptanz und mein schließliches ein Coming-Out.

Dies ist die deutsche übersetzung dieses englischen Original-Artikels.

Panoramafoto von Vancouver, English Bay

Wie ich zuvor bereits schrieb war mir schon früh bewusst, dass ich eigentlich ein Mädchen war, etwa im Alter von acht oder neun Jahren. Da ich jedoch keine Möglichkeit sah, diese Gefühle auf sichere Weise auszudrücken, beschloss ich damals, sie zu verstecken und tief zu vergraben. Natürlich verhinderte das nicht, dass sie über die Jahre immer wieder hervortraten. Allerdings war die Darstellung von trans Personen, besonders trans Frauen, die mir früher zur Verfügung stand und zuvor die komplette Unkenntnis über diese Themen ein großes Hindernis dabei, auf sie einzugehen.

Ich glaube, mir wurde die Existenz von trans Menschen zum ersten Mal in meinen früheren Zwanzigern bekannt. Aber was ich sah war vor allem eine verzerrte Sicht der Massenmedien. Heute hat sich das ein wenig verbessert aber damals in den frühen 2000er Jahren war die weit verbreitete Sicht auf trans Menschen eine die sie als sexuellen Fetisch, vor allem in an ein cis Publikum gerichteter Pornografie, oder als hinterhältige Betrüger*Innen die ahnungslose cis Leute dazu manipulieren wollen, Sex mit ihnen zu haben, also im Prinzip als Sexualstraftäter*Innen. Selbstverständlich haben beide diese Ansichten nichts mit der Realität zu tun aber es war alles, was mir aus meiner damaligen Sicht zur Verfügung stand. Das alles hat mir nicht gerade geholfen, meine Erfahrungen in irgendeinen sinnvollen Kontext zu setzen. Ich hatte keinen Zugang zu Räumen wo sich tatsächlich existierende trans Menschen austauschten und wo ich hätte sehen können, dass wir eben auch nur gewöhnliche Menschen sind, die lediglich in besonderen Umständen leben. Dadurch dass meine Wahrnehmung von trans Menschen so negativ war verfolgte ich diese Richtung zunächst nicht weiter. Ich war mir sicher „keine von denen” zu sein, die mir die Medien gezeigt hatten. Zudem hatte ich damals noch nichts über das Konzept Dysphorie gehört, was es weiter erschwerte meine Situation irgendwem zu beschreiben. Ich fühlte nur, das etwas nicht stimmen, konnte aber nichts davon ausdrücken.

Also verstärkte ich weiter meine Bemühungen, mein wahres selbst und meine Gefühle zu unterdrücken. Ich sprach mit niemandem darüber wie ich mich fühlte und versuchte mein bestes, mich anzupassen und so zu sein wie andere es von mir erwarteten. Dieser andauernde Druck, ein Schauspiel aufrechtzuerhalten erhalten, Trag maßgeblich zu meiner immer schlimmer werdenden Angststörung bei. Als diese dann 2012 nicht mehr handhabbar war begann ich eine Psychotherapie um sie zu behandeln. In dieser holte ich auch vieles aus meiner Kindheit wieder an die Oberfläche, auch meine unterdrückten Gefühle, auch wenn ich zu der Zeit noch nicht den Mut hatte, mit meinem Therapeuten oder überhaupt irgendjemandem darüber zu reden. In den darauf folgenden Jahren fand ich einige tatsächliche trans Personen über soziale Netzwerke, vor allem Twitter, als auch trans Freund*Innen, die meisten in den USA und Kanada, einige aber auch in Deutschland, was meine Wahrnehmung gegenüber dem Trans-Sein endlich von der verzerrten Mediensicht befreite. Zu dem Zeitpunkt war mir klar, dass es einfach falsch wäre, mich weiter als Mann zu verkleiden und dass mir das nur immer weiter schaden würde. Dazu, mich als Frau zu akzeptieren war ich aber noch nicht in der Lage und hatte auch noch zu viel Angst vor den damit verbundenen Konsequenzen. Zunächst erforschte ich für mich die Möglichkeiten nicht-binären Geschlechts, da es mir erstmal am wichtigsten war, mich von dieser falschen männlichen Fassade zu lösen. Allerdings fühlte sich das auch nicht wirklich richtig an und bald darauf konnte ich auch tatsächlich akzeptieren wer ich wirklich bin. Die Fassade war endlich ausreichend aufgebrochen.

Ich möchte an dieser Stelle klarstellen, dass obwohl für mich der Versuch mich in nicht-binärem Geschlecht wieder zu finden „nur” ein Schritt auf meinem Weg war, es natürlich Menschen gibt, für die es tatsächlich passt. Die Ansicht, dass nicht-binäre Geschlechter, ähnlich wie oft auch Bisexualität betrachtet wird, „nur eine Phase” seien, ist äußerst schädlich und invalidierend. Meine eigene Erfahrung ist nicht repräsentativ für die anderer.

Mein schließliches Coming-Out gegenüber anderen begann im Frühjahr 2017, nach einigen Jahren der Wieder-Entdeckung dessen was ich so lange verdrängt hatte. Ich weiß, dass es nicht meine Schuld ist, aber mir tut alles immer noch furchtbar leid für das kleine Mädchen das nicht als sie selbst aufwachsen konnte und ich bin wütend auf die Welt die es ihr verwehrte. Jedoch waren die letzten Jahre auch ein Prozess von unbeschreiblicher Heilung. Diese Maske so lange zu tragen ließ nie viel Kraft übrig um wirklich zu leben. Es hinderte mich daran, mich genug um mich selbst zu kümmern und führte zu dauernder Erschöpfung. Jetzt ist diese Belastung endlich nicht mehr da.

Mich der Welt gegenüber zu offenbaren geschah über mehrere Monate hinweg. Ich hatte Anfang 2017 begonnen, mich deutlich weiblich zu präsentieren während ich noch Nicht-Binarität erkundete. Das war ziemlich das erste Mal seit ich ein kleines Kind war, dass ich mich in irgendeiner Kleidung wohl fühlte. Nach kurzer Zeit trug ich die Klamotten für den „boy mode” (äußeres männliches Auftreten als AMAB trans Person) nur noch zur Arbeit und wenn ich Verwandte traf. Ich verbrachte meinen Sommerurlaub 2017 in Kanada wo ich Freund*Innen in Toronto und Vancouver besuchte. Das waren die ersten zwei Wochen in denen ich ohne Unterbrechung öffentlich weiblich auftrat. Diese Erfahrung war so eine starke Bestätigung und mich nach meiner Rückkehr wieder verkleiden zu müssen fühlte sich so furchtbar an, dass mir klar wurde, mein baldiges Coming-Out anstreben zu müssen. Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten, diese Maske zu tragen. Partner*Innen und Freund*Innen zu haben, die mich dabei unterstützten war unbeschreiblich wertvoll und ist es immer noch. Sich als trans Frau öffentlich zu zeigen ist mit großer Anstrengung und manchmal auch Gefahr verbunden und ein soziales Netz, dass mich auffangen konnte wenn Dinge schlimm waren, war sehr wichtig.

Ich hatte immer noch nicht den richtigen Namen gefunden, und dass mich Leute bereits mit „sie” bezeichneten aber trotzdem den Deadname verwendeten, war kein haltbarer Zustand. Ich hatte ein paar Kriterien die mir wichtig waren: zweisilbig, bekannt aber nicht zu häufig im Deutschen und Englischen, ohne einfache Verkürzungen oder „Spitznamen”-Varianten, nicht zu modern und mehr oder weniger in der Tradition anderer Frauennamen in meiner Familie. Nach ein paar Wochen der Suche hatte ich einen Kandidaten gefunden den ich ausprobieren wollte, also unternahm ich eine kurze Testphase mit ein paar vertrauten Menschen. Jedes Mal wenn jemand den Namen für mich verwendete fühlte sich als große Bestätigung an und gab mir einen kleinen Schub an Euphorie. Nach ein paar Tagen war klar, dass ich die richtige Wahl getroffen hatte: Esther (die Englische Aussprache, kurzes „E” am Anfang). Den richtigen Namen zu suchen war auf jeden Fall eine wertvolle Erfahrung und hat mich einem stimmigen Selbstbild sehr viel näher gebracht.

Damit blieben noch zwei Dinge: Arbeit und Familie. Ich hatte damals etwa zwei Jahre selbstständig gearbeitet mit Kunden und Projekten die etwa alle 3-6 Monate wechselten. Diese Arbeit weiter zu führen hätte bedeutet, mich alle paar Monate wieder vor neuen Kolleg*Innen zu outen und auch den bürokratischen Aufwand von Verträgen mit dem noch nicht offiziell geändertem Namen immer wieder durchzumachen. Um das zu vermeiden entschloss ich mich wieder in Festanstellung zu arbeiten und fand eine Firma, die mir bei den formellen Probleme entgegen kam, z.B. meinen Vertrag zwar unter dem offiziellen (aber falschen) Namen zu führen aber den Richtigen für alles andere zu verwenden: Email, Slack, Visitenkarten, usw.

Ungefähr zur gleichen Zeit schrieb ich einige lange Emails an meine Verwandten in denen ich meine Situation erklärte und auch weshalb ich in den Monaten zuvor so zurückgezogen war. Natürlich kamen fragen auf aber das war zu erwarten. Überrascht war ich, dass einige noch gar nichts von trans Personen gehört hatten. Meine Sorgen stellten sich als unbegründet heraus und sie akzeptierten mich sehr schnell als die die ich bin. In den darauf folgenden Monaten traf ich sie alle wieder, diesmal als ich selbst. Auch heute, ein Jahr später, ist es immer noch eines der besten Gefühle die ich je erlebt habe, wenn sie mich irgendwo als ihre Tochter/Nichte/etc. vorstellen und ich bin unglaublich dankbar, dass ich diese Unterstützung von meiner Familie erfahre.

Es ist nur ungefähr ein Jahr her, dass ich mich allen gegenüber geoutet habe und die alte Maske gar nicht mehr trage. Ein Jahr authentischen Lebens als ich selbst, und obwohl das Leben auf jeden Fall in vielerlei Hinsicht schwieriger geworden ist, weiß ich dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Heute ist es für mich unvorstellbar, mich jemals wieder so zu verkleiden wie ich es all die Jahre getan hatte. Das bringt auch einige Probleme mit sich da meine Dokumente (Ausweis, Reisepass, usw.) noch nicht geändert sind. Oft gibt es schwierige Situationen in denen Leute mich sehen und der Name auf einem Dokument nicht passt, besonders da die körperlichen Veränderungen (z.B. durch die Hormonbehandlung) mittlerweile sehr deutlich sind.

Ich hätte all das viel eher tun können, hätte ich nur Zugang zu realistischeren Darstellungen von trans Frauen gehabt, Menschen mit denen ich mich hätte identifizieren können, die mir all das hätten erklären können. Ich kann nur hoffen, dass trans Menschen, besonders Kinder, die ihr wahres Selbst heute entdecken, bessere Chancen haben, sich frühzeitig akzeptieren zu können und nicht Jahrzehnte lang eine Person spielen müssen die sie gar nicht sind.

Es hat eine lange Zeit gedauert, aber heute in meinen Dreißigern bin ich soweit, mich selbst zu akzeptieren und als die zu Leben die ich bin: eine Frau die dazu gezwungen und manipuliert wurde, ihr wirkliches Ich für die meiste Zeit ihres Lebens zu verstecken. Eine trans Frau. Und ich verstecke mich nie wieder.